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Der gute Mensch

»Also«, säuselte die Gestalt vor Emred, »erkläre mir doch noch einmal, wieso ich dich nicht töten sollte?«
Der Fremde warf ihm einen Blick über die Schulter zu und schlenderte ein paar Schritte zur Seite, drehte in einer geschmeidigen Bewegung um und ging wieder in die andere Richtung zurück. So marschierte er auf und ab. Machtlos beobachtete Emred dieses hypnotisierende Hin und Her und lauschte den sanften Worten, die sein Innerstes zu Eis erstarren ließen. Die Steinmauer in seinem Rücken schürfte ihm die Haut durch sein Hemd hindurch auf. Er presste sich mit aller Kraft dagegen, als könne sie ihn, wenn er nur fest genug drückte, nach drinnen, in Sicherheit bringen. Der Eingang zum Gebäude lag direkt neben ihm. Ein paar Armlängen die finstere Gasse entlang. Zum Greifen nahe und doch unerreichbar. Der Fremde war schneller, stärker, klüger. Die drahtige Gestalt in dem eleganten Anzug hatte Emred in diese Sackgasse gejagt, ohne einen einzigen Schritt zu rennen. Nicht einmal sein Atem hatte sich beschleunigt. Wie ein Schatten klebte er an Emreds Fersen, verfolgte ihn von einem düsteren Eck ins nächste.
Anfangs hatte Emred das unbestimmte Gefühl des Verfolgtwerdens als Einbildung abgetan. Es war Nacht, Nebel kroch durch die Gassen der Stadt. Der regenfeuchte Boden warf das Schimmern der Laternen und des Mondes zurück und ließ Schemen in der Finsternis tanzen. Er hatte die Gestalt wahrgenommen, ein Umriss, schwärzer als die Dunkelheit selbst. Immer versteckt am Rande seines Blickfeldes, gehüllt in die Abwesenheit von Licht. Irgendwann bewältigte es seine Rationalität nicht mehr, ihn am Davonrennen zu hindern. Emred ergab sich seinem beschleunigten Puls und den zittrigen Knien und spurtete los. Er schlug Haken, täuschte die Richtung an. Der Schatten blieb genau hinter ihm. Er schaffte es nicht, ihn abzuschütteln. Es gab kein Entkommen. Und jetzt standen sie hier. In dieser Gasse. Umringt von Unrat, bröckeligen Mauerwerk und Nebelschwaden. Steriles Mondlicht beleuchtete diesen letzten Akt ihrer wilden Jagd.
Emreds Herz raste, es pochte erbarmungslos, sodass er sich auf die sanften Worte des Fremden konzentrieren musste, um ihn zu verstehen.
»Ich warte auf deine Antwort«, sagte der Dunkle ruhig. Seine Stimme schnitt durch Emreds Gedanken wie kalter Stahl und brachte ihn zum Zittern. Er hob die Arme schützend vor sich. »Bitte«, wimmerte er und kauerte sich zusammen.
Die Gestalt schnaubte und blieb direkt vor Emred stehen. »Bitte, was? Ich soll dich nicht mit mir nehmen? Du willst nicht sterben? Dann erkläre mir doch, warum ich dich verschonen soll.«
Emred sah auf die polierten Lackschuhe seines Gegenübers, die trotz der schlammigen Straße, völlig unbefleckt waren. Der Dunkle spiegelte sich weder im Lack noch in den Pfützen um ihn herum. Langsam hob Emred den Kopf und sah den Fremden an. Er wollte sich sein Gesicht einprägen, um es später der Wache beschreiben zu können. Sein schwarzes Haar war ordentlich geschnitten, die bleiche Haut schillerte sachte im Mondlicht. Weder die schmale Statur noch das glatt geschliffene Gesicht des Fremden verrieten sein Geschlecht. Selbst seine samtene Stimme klang androgyn. Emred versuchte, sein Alter zu schätzen. Es war unmöglich. Der Dunkle war alles: alt und jung, Mann und Frau, weich und kantig, Realität und Einbildung. Und gleichzeitig war der Dunkle nichts, ein Schatten in der Dunkelheit.
Emred wollte dem Fremden in die Augen sehen, er wollte ihm sagen, warum er ihn in Frieden lassen sollte, es ihm mit aller Inbrunst entgegen brüllen. Stattdessen wandte er den Blick ab. »Ich bin ein guter Mensch«, wimmerte Emred.
Der Dunkle lachte auf. »So, so. Ein guter Mensch.« Er begann erneut vor ihm auf und ab zu schreiten. »Ist nicht jeder auf irgendeine Art ein guter Mensch?« Die Schritte des Fremden verhallten in der Gasse. »Nenne mir einen besseren Grund«, fuhr er fort.
Emreds Kinn bebte. Er schluckte, bevor er sprach. »Ich habe eine Frau und Kinder. Bitte ... zwei kleine Mädchen. Sie brauchen ihren Vater!« Die Gesichter seiner Familie huschten durch seinen Geist. Der Streit vom Abend kam ihm in den Sinn. Emred verbannte den Gedanken schnell wieder.
Der Dunkle sah nach oben in den Himmel und hakte die Daumen in den Hosenbund. »Viele Mütter müssen ihre Kinder alleine aufziehen und viele kleine Mädchen sind schon ohne ihren Vater zu starken Frauen herangewachsen.« Er sah wieder auf Emred herab.
Dieser hob den Kopf mit aller Kraft und versuchte dem wertenden Blick des Dunklen standzuhalten. »Sie brauchen mich.« Emreds Stimme brach.
»Vielleicht hätten sie dich heute Abend gebraucht, nach eurem Streit. Stattdessen bist du in diese Spelunke gegangen. Tut ein guter Mensch so etwas?«
Diese Worte wickelten sich unerbittlich um Emreds Brust. Er schnappte nach Luft. Verfolgte dieser Schemen ihn bereits so lange?
»Ich verfolge dich schon dein ganzes Leben, Emred. Dich und jeden anderen.« Der Dunkle seufzte und ein sanftes Lächeln huschte über sein Gesicht.
Emreds Körper zitterte unkontrolliert. Er sackte an der Wand herab und plumpste auf den nassen Boden. Schweiß stand ihm auf der Stirn. Ein Schluchzen schüttelte ihn. Auf einmal konnte Emred den Blick nicht mehr von den Augen des Fremden abwenden. Schwarze Tümpel ohne Grund.
»Du willst leben, guter Mensch?«
Emred presste die Lippen aufeinander und nickte heftig.
»Für deine Familie?«, fragte der Fremde weiter.
Emred keuchte erleichtert und kniff kurz die Augen zu. Dann öffnete er sie wieder und sah den Dunklen direkt an. Der schwarze Schatten der Gestalt legte sich über ihn wie eine warme Decke. Wieder nickte Emred. »Sie brauchen mich«, wiederholte er.
Der Dunkle nickte seinerseits. Er trat einen Schritt zurück und musterte Emred, der immer noch mit dem Rücken an der Hauswand saß.
Die Augen des Dunklen wurden schmal, eine Falte erschien zwischen seinen Brauen. »Nun, mir wird ja nur zu oft vorgeworfen, ich wäre ungerecht und würde keinen Unterschied zwischen den guten und schlechten Menschen machen«, sprach der Fremde weiter. Er nahm die Hände aus dem Hosenbund und glättete seine Jacke, obwohl keine Falte darauf zu sehen war. »Deswegen werde ich dir ein einmaliges Angebot unterbreiten.«
Emred keuchte. Am Horizont erschien ein sanftes Leuchten. Der Morgen war nicht mehr fern. Der schwarze Schemen sprach in aller Seelenruhe weiter: »Du darfst selbst entscheiden, guter Mensch«, sagte er. »Im Gebäude hinter dir lebt eine Familie. Eine junge Witwe mit ihren beiden kleinen Töchtern. Den Vater haben sie auf tragische Weise verloren.« Der Gesichtsausdruck des Fremden wurde wieder kalt. Berechnend. »Du sagst, eine Familie kann ohne den Vater nicht sein.« Die Dunkelheit der Nacht wich dem sanften Blau des neugeborenen Morgens. Der diffuse Schemen des Fremden erschien deutlich vor dem Licht des neuen Tages. »Also«, sprach er mit einem wissenden Lächeln. Seine Stimme klang amüsiert. »Soll ich sie von ihrem Leid erlösen ... oder verschonen und dich an ihrer Stelle mit mir nehmen?« Diese Worte schälten die Wahrheit aus Emreds Beteuerungen. Sturmschwere Wolken schoben sich über den errötenden Himmel und stahlen den Tag. Die Gasse versank erneut in Schwärze. Das Grinsen im Gesicht des Dunklen verzog sich zu einer bleichen Sichel. »Es ist deine Entscheidung, guter Mensch.«

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