Band aus Licht
Geschichten aus Ahrcárra
Unerwartete Freiheit
Die Zimmertür schlug ins Schloss. Nejhalania fuhr erschrocken zusammen. Sofort senkte sie ihren Blick wieder auf das zerlesene Buch voller Gleichungen. Der sommerlich klare Himmel und das Getümmel vor ihrem Fenster hatten sie nur wenige Sekunden abgelenkt, sicher fand ihre Großmutter keinen Grund, um wütend auf sie zu werden. Trotzdem steckte sie die Nase noch etwas tiefer ins Buch. Nur zur Sicherheit.
Die über den Marmor klackernden Schritte Donna Herbstregens näherten sich. Nejhalania fühlte einen sachten Luftzug in den Federspitzen ihrer Schwingen, die sie bequem hinter der schmalen Stuhllehne überkreuzt hatte.
Donna räusperte sich, und das Geräusch hallte durch Nejhalanias Studierzimmer bis hinauf zur bemalten Decke. Obwohl sie diese Etage im Wohnturm der Herbstwinds schon beinahe ihr ganzes Leben, seit dem Tod ihrer Eltern, bewohnte und sich seit dem Auszug des Kindermädchens bemüht hatte, den Räumlichkeiten mit wallenden Stoffen und dunklen Regalen etwas Wärme und Gemütlichkeit zu verleihen, blieb das einzig Heimelige das prasselnde Feuer im offenen Kamin. Die Kühle in ihrem Zuhause kam nicht nur von Donnas Flügelschlagen. Eigentlich störte das Nejhalania nicht einmal, aber jedes Mal, nachdem sie Besuch empfangen hatte, machten Gerüchte die Runde; über ihre distanzierte Art und die unpersönliche Einrichtung ihres Zuhauses. Und das, obwohl sie sich redlich Mühe gab, ihren Platz in der Gesellschaft Lichtburgs einzunehmen! Irgendwann wollte sie schließlich Donnas Erbe als Abgeordnete antreten können.
Leider war Donna als Vorbild für Herzlichkeit und Verbundenheit gänzlich ungeeignet; Nejhalania musste diesbezüglich ihren eigenen Weg finden, wenn sie die politischen Intrigen ihrer Großmutter in Zukunft nicht weiterspielen wollte.
»Was tust du da, Kind?«
Nejhalania richtete sich auf. Die Anrede ließ sie die Lippen aufeinanderpressen, aber sie sagte nichts. Das wäre sinnlos gewesen und hätte nur zu einem Wutanfall ihrer Großmutter geführt, die es nicht gewohnt war, dass ihr widersprochen wurde. Trotzdem ärgerte es Nejhalania, so angesprochen zu werden. Sie war schon lange kein Kind mehr, auch wenn sie vor der Gesellschaft erst nach ihrem Ausscheiden aus der Universität als volljährig angesehen werden würde. Und bereits jetzt stand es ihr eigentlich zu, von ihrer Großmutter mit ihrem Titel angesprochen zu werden. Doch das würde sie vermutlich erst tun, wenn Nejhalania endlich eine Magistra wäre und sie damit gesellschaftlich über Donna stand.
»Ich wiederhole die Grundlagen, Großmutter.« Sie schlug das Buch zu. Mathematische Modelle für großflächige Wettermanipulation – Band 2: Ursache und Wirkung, von Sera Grauflügel stand auf dem Ledereinband.
»Du lernst? An einem Tag wie heute?«
Natürlich tat sie das. Was sollte sie sonst tun? Die Prüfung zur Magistra fand in nicht einmal mehr ganz einem Jahr statt. Nejhalania wandte sich zu ihrer Großmutter um. »Wieso sollte ich nicht lernen?« Alles andere würde Donna normalerweise mindestens genauso verurteilen.
»Heute ist der Tag des Gründungsfestes in Vierleben. Ich dachte, du würdest vielleicht dorthin fliegen wollen.« Etwas Berechnendes lag in ihrer Stimme. Nejhalania musterte sie. Wie immer trug ihre Großmutter die ergrauten Schwingen eng an den Rücken gepresst und das Haar zu einem strengen Knoten gesteckt. Ihr cremefarbener Talar floss makellos an ihrer schmalen Gestalt herab, und ihr Blick stach in ihren eigenen. Nejhalania wich ihm aus und sah zum Fenster.
Vielleicht war das ein Test, eine Falle?
Im Sitzen war die Hauptstadt Ahrcárras vom Fensterrahmen verborgen, aber bei klarem Wetter wie heute konnte man, wenn man stand, das Treiben auf dem Platz der Iustitia beobachten. Nur zu gerne hätte sie einen Blick riskiert, wagte es in Donnas Anwesenheit aber nicht.
»Ich … ich soll den Jahrmarkt besuchen?« Schon allein bei dem Gedanken daran roch sie die kandierten Äpfel, Musik erklang in ihrem Geist, und sie sah sich selbst ausgelassen tanzen. Beinahe hätte sie bei der Vorstellung laut geschnaubt. Für alberne Träumereien hatte sie keine Zeit.
»So kurz vor der wichtigsten Prüfung meines Lebens? Ich glaube, das ist keine gute Idee.« Das Papier der Seite, an deren Rand sie unbewusst entlanggefahren war, schnitt in ihre Fingerkuppe. Sie verkniff es sich, den Finger in den Mund zu stecken oder auch nur auf den Schnitt zu sehen, auch wenn er brannte, als hätte sie in eine Flamme gefasst.
»Unsinn!«, donnerte Donna und riss das Fenster auf. Frische Luft strömte in Nejhalanias Studierzimmer, ließ Papier rascheln und brachte den Duft nach Frühling und das Lachen der vorbeifliegenden Passanten mit sich. Ihr Wohnturm lag in den Außenbezirken Lichtburgs; eigentlich nicht das beste Viertel der Stadt, aber das Gebäude war ein alter Familiensitz der Herbstwinds, den Donna nach dem Tod ihres Gatten aufwendig restaurieren und ausstatten hatte lassen. »Du solltest dir eine Pause gönnen und dir einen freien Tag nehmen.« Auch in diesen Worten lag keinerlei Wärme.
Nejhalanias Gedanken rasten. Was plante ihre Großmutter, das ihre Anwesenheit auf dem Fest verlangte? Wollte sie sie vielleicht nur loswerden? Um was zu tun? Um ein geheimes Treffen abzuhalten? Mit einem anderen Mitglied der Lichtgruppe, für eine inoffizielle Absprache? Mit einem Liebhaber?
Vielleicht war Donna aber auch krank. Nejhalania musterte sie aufmerksam. Ihre Haut strahlte rosig, und ihre Augen funkelten, nein, das konnte es nicht sein. Nejhalania fühlte sich wie ein Spatz im Angesicht des Falken. Aber im Gegensatz zu dem kleinen unbedeutenden Vogel durfte sie sich ihre Schwäche nicht anmerken lassen, also hob sie das Kinn und erwiderte Donnas berechnenden Blick.
»Meinst du das ernst, Großmutter?« Sofort bereute sie ihre Worte, doch Donna reagierte nur mit einem freudlosen Kichern.
»Natürlich, Kind. Stell nicht so dumme Fragen.«
Das Gefieder in Nejhalanias Rücken sträubte sich, als Donnas Stimme schärfer wurde. »Wieso sollte ich es denn nicht ernst meinen?«
Weil sie sich bisher jede Freiheit nur hinter Donnas Rücken erlauben hatte dürfen, dachte Nejhalania. Und weil bisher jede Freiheit, die Donna ihr gewährte, ihren Preis gehabt hatte. Aber sie sprach ihre Gedanken nicht aus, und Donna trat einen Schritt vom Schreibtisch zurück und bedeutete Nejhalania mit der Schwinge aufzustehen.
Nejhalania erhob sich und legte die Flügel ebenso elegant und eng an, wie Donna sie trug. Erst jetzt bemerkte sie das armlange hölzerne Kästchen in den Händen ihrer Großmutter.
»Und damit du auf deinem kleinen Ausflug auch aussiehst wie eine würdige Lichtburgerin, wirst du dieses erlesene Schmuckstück tragen.« Donna klappte das Kästchen auf.
Sonnenstrahlen fingen sich in dem Collier. Wie ein Band aus purem Licht lag es auf dem dunklen Samt. Unzählige meisterlich geschliffene Diamanten, in Weißgold zu einem Blitz gefasst, warfen Reflexionen an die Wände. Sicherlich ein Meisterwerk der Handwerkskunst, das andere in schieres Verzücken versetzt hätte. Das also war der Preis für ihren freien Tag.
Nejhalania verkniff es sich, die Augen zu verdrehen. »Ist das aus der neuen Kollektion?«
»Ja, Kind. Das teuerste Stück. Meine Goldschmiede haben sich selbst übertroffen, findest du nicht?«
»Sie haben sich damit auf jeden Fall ein unübersehbares Denkmal geschaffen.«
»Unübersehbar fürwahr. Es spiegelt unseren naturgegebenen Stand in der Welt wider. Über allem im Licht.« Donna legte das Kästchen auf Nejhalanias Buch ab und hob das Schmuckstück bedächtig heraus. In ihren schmalen Händen und neben dem goldenen Ring, dem Symbol ihres Besitzes und Standes, wirkte das Collier tatsächlich alles andere als fehl am Platz. Sie hob es Nejhalania entgegen.
Die wagte, etwas zurückzuweichen. »Bist du sicher, dass ich so ein wertvolles Stück in Vierleben tragen sollte? Wird mich eine Wache begleiten?«
»Du bist eine Lauda des Himmelsvolkes, Kind. Fürchtest du dich etwa vor Magielosen und Bodengebundenen?«
Natürlich tat sie das nicht. Nejhalania straffte die Flügel und trat auf Donna zu. Sie reckte den Hals, sodass diese ihr den Blitz aus Diamanten und Weißgold umlegen konnte. Eisig presste sich das Metall gegen ihre Haut. Die Spitze des Blitzes kratzte, und das Gewicht drückte unangenehm auf ihre Schlüsselbeine. Nejhalania trat von Donna zurück. Die musterte sie mit einem kühlen Lächeln. Dann klatschte sie in die Hände. »Sanna«, rief sie, und die untersetzte Dienerin trat aus dem Schatten einer der marmornen Säulen.
»Kleide meine Enkelin mit den von mir gewählten Kleidern ein. Ich habe ihre Garderobe auf den Schmuck abgestimmt. Und steck ihr Haar ordentlich hoch, damit man das Collier gut sieht.« Donna streckte die Hand aus und steckte Nejhalania mit gekräuselter Nase eine verirrte Haarsträhne zurück in die Frisur.
»Sehr wohl, Lauda Herbstregen.« Die Dienerin nickte mit zu Boden gesenktem Blick.
Nejhalania wartete, bis ihre Großmutter aus dem Studierzimmer gerauscht war, und zupfte die Haarsträhne dann wieder hervor. Dann erst folgte sie Sanna in das angrenzende Schlafgemach.
»Wünscht ihr eine Frisur, wie sie Lauda Herbstregen trägt, oder … etwas anderes?«, fragte Sanna nach einem Kontrollblick auf die geschlossene Tür.
Nejhalania ließ sich vor ihrem Frisiertisch nieder und rümpfte beim Anblick der Kleidungsstücke, die auf ihrem Bett bereitlagen, die Nase. Der Talar mit den Perlenstickereien natürlich. Das fliederfarbene Ungetüm war dermaßen schwer, dass sie kaum damit fliegen konnte, aber Nejhalania stand keinesfalls der Sinn danach, für den kurzen Flug in die Hauptstadt die Sänfte zu nehmen. Sie faltete die Flügel locker im Rücken und seufzte. »Lauda Herbstregen wird wohl nicht mit hinunter in die Stadt kommen, vermute ich.« Sie lächelte der älteren Dienerin zu.
Die erwiderte das Lächeln und nahm die silberne Bürste zur Hand. »Dann wie immer?«
Nejhalania nickte, gleichzeitig öffnete sie ihr Schmuckkästchen und kramte das Armband ihrer Mutter hervor. Die zwei silbernen Federn schmiegten sich warm um ihr Handgelenk. Ein schlichtes Schmuckstück, das sie jedem anderen vorziehen würde. Leider war Donna nicht gut auf ihre Tochter zu sprechen, darum trug Nejhalania es nur heimlich, versteckt unter den weiten Ärmeln ihres Talars.
Nicht zum ersten Mal musste sie als Modell für die Kreationen ihrer Großmutter herhalten, und wie jedes Mal würde sie das Kinn hochhalten und den pompösen Schmuck ins rechte Licht rücken. Wieder glaubte Nejhalania, den Duft kandierter Äpfel zu riechen. Ein wenig Schaulaufen war immerhin ein geringer Preis für einen Ausflug auf den Jahrmarkt.