

Leseprobe XXL
The Dragon & the Lynx
Der Fluch der Wilden Magie
1. Himmel, Arsch und Sturm!
Der Sturm, der sich dort am Horizont wie ein Dämon aus Rauch und Schatten aufbäumt, wird uns alle töten. Er wird über das Dorf herfallen und die Häuser aus Holz, Stroh und Lehm binnen Sekunden in ihre Einzelteile zerlegen. Er wird Bäume wie Gras niedermähen. Er wird jeden aufrechten Menschen fällen. Nichts wird er übriglassen, außer Tod und Wehklagen. Das weiß ich mit absoluter Gewissheit – einer Gewissheit, bei der ich keine Ahnung habe, woher sie kommt, eine schwindelverursachende Gewissheit.
Die ersten dunklen Wolken ziehen bereits über die Felder, der Wind rast ihnen voran. Kalt wie der Tod zerrt er an den Haarsträhnen, die sich aus meiner Flechtfrisur gelöst haben. Schon so nah!
Ich raffe meine Röcke und versuche schneller als der Wind zu sein, den ausgetretenen Weg hinunter ins Dorf. Steine und Geäst pieken in meine nackten Fußsohlen.
Der Wind heult auf und das Rauschen in den Bäumen, die wie Wächter dicht ums Dorf stehen, schwillt an, bis ich nicht einmal mehr meinen Atem hören kann. Schweiß bildet sich auf meiner Stirn, trotz der Kälte.
Der Dorfplatz kommt in Sicht. Der Wind zerrt an den bunten Wimpeln und Fahnen, mit denen die Häuser für das Fest heute Abend geschmückt wurden.
Eine Menschentraube hat sich auf dem Dorfplatz versammelt und schaut dabei zu, wie der große Bauer Daro und sein Sohn die letzten Wimpel in die Linde vor dem Wirtshaus hängen. Keiner beachtet die Wolken, die sich im Hintergrund zu einem nachtschwarzen Gebirge auftürmen.
»Wir müssen Schutz suchen!«, brülle ich.
Alle drehen sich zu mir um. Ich bleibe stehen und stemme keuchend die Hände auf die Oberschenkel.
Ria tuschelt mit Saari und deutet mit dem Finger auf mich. Die bunten Bänder in den Haaren der beiden dummen Pockennasen flattern im Wind. Die Dorfälteste verdreht genervt die Augen bei meinem Anblick. Die Falten auf ihrer Stirn werden noch tiefer. Auf ihren knorrigen Stock gestützt humpelt sie auf mich zu. »Najra Flammenzunge, was redest du da schon wieder für einen Unsinn, Kind?«
»Wir müssen Schutz suchen«, ich lege so viel Nachdruck in meine Worte, wie ich nur kann, »der Sturm kommt immer näher!«
Um mich herum schließen die Dorfbewohner ihren Kreis. Der Bäcker schüttelt erbost den Kopf. Er mag mich nicht mehr, seitdem ich seinen aufdringlichen Sohn in den Misthaufen geschubst habe.
Die Tochter des Schmieds und ihre Schwester – beide hübsch und folgsam, wie es sich gehört – kichern belustigt, und ich höre deutlich die Worte »Moppel-Najra« aus ihrer Richtung. Vermutlich reden sie absichtlich so laut.
Auch meine Eltern und mein Bruder stehen in der Menge und mustern mich mit von Sorgenfalten zerfurchten Gesichtern.
Sie alle stehen da und starren mich an, als sei ich mal wieder das Problem und nicht dieser verseuchte Sturm!
»Verfluchte Seuche noch mal! Wir müssen jetzt Schutz suchen, nicht nächste Woche!«, fauche ich sie alle an.
»Zügle dich, Flammenzunge«, erwidert die Dorfälteste in unerträglicher Seelenruhe. Stur erwidere ich ihren Blick, während eine eisige Sturmböe die Wimpel über unseren Köpfen zum Schnalzen bringt.
»Und wieso sollten wir Schutz suchen?«, hakt sie nach und stützt sich mit beiden Händen auf ihren Stock.
Ich weiche vor der Frage zurück. »Weil … weil wir im Dorf nicht sicher sind.« Ich deute auf die turmhohen Wolken, die rasend schnell näherkommen. Genau in diesem Moment fegt ein eisiger Windstoß Laub und Äste über den Platz. »Seht ihr das denn nicht?«
»Wovon sprichst du, Kind?« Die Augen der Ältesten verengen sich zu Schlitzen.
»Na, von dem verseuchten Sturm, der auf uns zurast! Genau da!« Ich hebe auch die zweite Hand und deute in den dunklen Himmel.
Die alte Rosine kommt einen Schritt auf mich zu. »Ein Sturm zieht auf? Woher willst du das wissen?«
Ich trete von ihr zurück.
Regen setzt ein, wird vom Wind durchs Dorf gepeitscht, reißt Laub und Zweige aus dem Wald mit sich und schleudert uns alles unbarmherzig entgegen. Auf einen Schlag wird es düster. Wie in tiefschwarzer Nacht stehen wir da. Aber außer mir scheint niemand sonst etwas davon zu bemerken. Alle stehen nur da und starren mich an.
Die Kälte kriecht mir in die Knochen. Setzt sich ebenso in mir fest wie die tödliche Gewissheit über etwas, von dem ich eigentlich keine Ahnung haben sollte. Woher weiß ich davon? Die Frage echot immer wieder durch meinen Geist. Die Antwort darauf kenne ich selbst nicht. »Ich weiß es eben … Bitte! Die Zeit drängt!«
Weg, pocht es auf einmal in meinem Kopf. Weg! Vor Schreck wanke ich. Gerade rechtzeitig.
Die Älteste reißt ihren Stock hoch, hält ihn mir wie eine Waffe entgegen. Er zittert, so wie ihre Arme.
»Du bist verseucht«, flüstert sie, trotzdem verstehe ich sie überdeutlich. Der Wind trägt mir ihre Worte förmlich zu. Überall um mich herum ziehen die Leute – meine Nachbarn, Freunde, Familie – Tücher und Schals über Mund und Nase. Auch ich hebe die Hand und lege sie mir übers halbe Gesicht, um es ihnen gleichzutun, aus Gewohnheit, denn das ist es, was man eben tut, wenn ein Verseuchter in der Nähe ist. Man schützt sich, um sich nicht anzustecken.
»Du hast dir die Seuche eingefangen.« Die Dorfälteste taumelt zurück.
Immer mehr dunkle Schemen rücken an die Seiten der Ältesten. Sie kommen mir auf einmal alle so fremd vor.
Weg! Weg hier, weg, pocht mein Herz.
»Seuche, nein!« Ich verzichte auf den Schutz vor Mund und Nase und hebe stattdessen die Hände, um der Ältesten und allen anderen meine Handflächen zu zeigen. »Ich bin nicht krank, ich habe nichts! Ich …« Ich sehe nur auf einmal Dinge, die andere nicht sehen, von denen andere noch nichts wissen – weil sie noch nicht geschehen sind.
»Ich will doch nur helfen.« Mein Mund wird ganz trocken, all die Worte, die ich der Ältesten und den anderen zu meiner Verteidigung entgegenbrüllen möchte, zerfallen darin zu Staub.
Die ersten Gestalten packen meine Handgelenke. Ich schreie und versuche mich loszureißen, doch immer mehr kommen ihnen zu Hilfe. Grob zerren sie an mir, reißen mich in alle Richtungen. Meine Sicht verschwimmt. Der Schemen der Ältesten vor mir hebt sich gegen die in ihrem Rücken zuckenden Blitze ab. »Ich danke dir für deine Warnung, Flammenzunge«, sagt sie, und ich höre alles aus ihren Worten, nur keine Dankbarkeit.
Nach Luft schnappend schnelle ich auf. Zitternd ertaste ich das gewohnte Laken und mein mit Stroh gefülltes Kissen. Es riecht nach Harz und aus der Küche kommt der Duft nach frischem Brot. Es ist still und dunkel. Die ersten Vögel beginnen vor dem Fenster gerade mit ihren Morgenliedern. Immer noch zitternd taste ich nach den Feuersteinen und der Talglampe auf dem Tisch neben meinem Bett. Erst nach mehreren Versuchen gelingt es mir, den Docht zu entzünden. Die Dunkelheit weicht, aber zwei Dinge bleiben: Schwindel und die Gewissheit, dass dieser sich erst legen wird, sobald ich mich für einen der mir nun offenstehenden Wege entschieden habe.
Mit weichen Knien hangele ich mich am Tisch und an der Wand bis ans Fenster.
Dort schlage ich den Vorhang zur Seite und sehe nach draußen. Obwohl die Nacht vorbei ist, bleibt der Himmel dunkel. Die ersten Wolken türmen sich am Horizont auf, eine eisige Böe reißt mir den Stoff aus der Hand.
Wenn ich die Dorfbewohner warne, werden sie überleben und mich anschließend trotzdem verraten …
Wenn ich meine Gewissheit geheim halte …
Ich wende mich vom Fenster ab. Sobald ich den ersten Schritt tue, legt sich der Schwindel.

Illustration »Luchs« von Maria Gerlach.
2. Mistvieh!
Acht Jahre später.
Der Luchs mit dem silbrig schimmernden Fell duckt sich geschmeidig unter einem Ast hindurch. Jeden Moment ist es so weit. Nur noch ein wenig …
Ich folge ihm schon seit zwei Stunden durch den nasskalten Wald. Warum er wohl so weit von seiner bergigen Heimat durchs Dickicht streift? Vielleicht hat der Hunger nach dem schier endlosen Winter ihn aus den Höhen ins Tal gelockt?
In den Senken hält sich noch immer Schnee, mit dem das silberweiße Fell des Luchses verschmilzt. Nur die Haarpinsel an seinen Ohren sind bläulich, ebenso die flauschige Spitze an seinem Stummelschwanz und die Flecken auf seinem Rücken. Sein Pelz muss ein Vermögen wert sein, genug für einen großen Vorrat an Pfeilspitzen, Salz und Nähfaden und einen ganzen Abend im Waschzuber, in sauberem, warmem Wasser.
Als hätte der Luchs meine Gedanken gehört, reckt er das Gesicht zum Himmel und legt die Ohren an. Einen Herzschlag lang bewegt sich keiner von uns beiden. Mit einem Kopfschütteln, als habe er sich geirrt, schleicht er weiter.
So leise wie möglich atme ich ein und aus. Langsam, ganz langsam spanne ich den Bogen. Platziere die Sehne an meiner Wange. Die Pfeilspitze richte ich nicht auf den Luchs, sondern taste mich damit über den Waldboden. Bis das Herz des Tieres in meinen Ohren pocht, als wären wir verbunden. Hier. Ich weiß, wohin er gehen wird, wo er sein wird, wenn mein Pfeil ihn erreicht. Eigentlich ist er schon tot, auch wenn meine Hand die Sehne und den Pfeil noch festhält.
Er macht einen Sprung und bleibt genau vor meiner Pfeilspitze stehen. Die zeigt auf seine Brust. Ein letztes Pochen - jetzt!
Der Silberluchs hebt den Kopf und sieht mich an. Er hat glasklare blaue Augen.
Ich muss nur noch die Finger meiner Sehnenhand lockerlassen.
Aber ich kann nicht.
Ich senke den Bogen.
Der altbekannte Schwindel reißt mich beinahe von den Füßen.
Schlamm spritzt mir ins Gesicht, durchdringt meine Kleidung und fließt eisig kalt über meine Haut. Die Kälte zwingt mich in die Knie.
Über mir bohren sich schwarze Türme in den grauen Himmel. Das Banner des Königs peitscht im Wind, glänzende Lederstiefel stampfen durch den Schnee, Klingen blitzen im fahlen Licht auf.
Schwarze Ledermasken mit langen Schnäbeln und spitzen Ohren.
Seuchensucher …
Ich wanke und stütze mich an dem Baumstamm neben mir ab, um nicht mit dem Hintern im Dreck zu landen.
Die Botschaft ist klar: Entweder ich erschieße das silbrige Mistvieh oder ich laufe der Pest der Lichten Lande in die Arme. Oder soll ich ihm nur weiter folgen? Oder etwas ganz anderes?
Alles dreht sich, ich muss mich entscheiden, sonst hört der Schwindel nicht auf. Dabei habe ich mich doch schon entschieden, oder? Ich wollte das Tier nicht töten. Und das will ich immer noch nicht.
Ach, wenn ich das nur immer wüsste … es würde mein Leben zumindest ein verschissenes bisschen leichter machen.
Inzwischen ist der Luchs verschwunden.
Zitternd hole ich Luft. Dann straffe ich mich und mache einen energischen Schritt in die entgegengesetzte Richtung.
Damit endet der Schwindel. Wie immer.
Ich stecke den Pfeil in den Köcher – es ist ohnehin einer meiner letzten -, den Bogen behalte ich schussbereit in der Hand. Immerhin könnte ich bald auf Seuchensucher treffen.
Dann mache ich mich endgültig auf den Weg nach Steinwall.
