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Goldgelbe Blitze

Die
Lichtburg
Chroniken
II

 

Ein Paar Steine

​

​

Ojo

Glumerula,

kurz vor den Stadtmauern

 

»Endlich«, sagte Ojo. Endlich, nach wochenlanger Reise durch den Großen Wald, waren sie angekommen. Das Stadttor von Glumerula kam in Sicht. Ojo blieb stehen und reckte seinen Rücken.

Chesoh und die Ziege, die den kleinen Wagen zog, überholten ihn wortlos. Der junge Himmelsmann hatte sich nur widerwillig dazu bereit erklärt, Ojo ein weiteres Mal auf diese lange Reise zu begleiten. Aber Ojo hatte ihn schließlich überzeugen können, indem er unablässig über seinen schmerzenden Rücken geklagt hatte.

Chesoh brummte eine Antwort. Er strich sich eine Strähne seines schulterlangen, schwarzen Haares hinters Ohr. Normalerweise schimmerte es bläulich im Sonnenlicht, aber nach der langen Wanderung, ohne eine Möglichkeit sich ordentlich zu waschen, war es stumpf geworden. Auch die wenigen, wild abstehenden Federn, die unter dem Kurzmantel des Himmelsmannes hervorlugten, hatten ihren Glanz verloren. Vermutlich hätte Chesoh ein paar imposanter Flügel gehabt, wenn er nicht als Kind auf grausamste Weise verstümmelt worden wäre. Und vielleicht wäre er dann auch etwas zugänglicher und fröhlicher geworden.

»Es ist nur für zwei Tage, Chesoh. Danach verschwinden wir wieder«, versuchte Ojo ihn aufzumuntern.

Chesoh winkte ab und ging weiter.

Es war wirklich schwer zu ihm durchzudringen, selbst während solch einer langen Reise. Ojo verzog das Gesicht und beobachtete, wie Chesoh ein kleines Stück Trockenfleisch von seinem Proviant nahm und es der maunzenden Katze zu seinen Füßen zuwarf. Nun, er sollte sich auf die guten Dinge konzentrieren. Chesoh schadete es nicht, hin und wieder unter Leute zu kommen, auch wenn man ihn dazu überreden musste.

Zudem kamen sie nur noch selten in die Hauptstadt. Diesmal wollten sie Güter verkaufen und kaufen, und sie sollten ihren Mittelsmann aus Lichtburg treffen, damit dieser ihnen eine ganz besondere Ware überreichen konnte. Etwas, das die Rebellen in ihrem abgelegenen Versteck ansonsten niemals erhalten würden.

Ojo schielte zur Katze, die jetzt auf dem Wagen lag und sich genüsslich die Beine putzte. Sie war Chesohs Katze – eine von vielen - und sie begleitete ihn überall mit hin, sogar durch den Großen Wald. Zugegebenermaßen fand Ojo die Tiere recht nett, wenn sie einem das Köpfchen in die Hand drückten oder einen mit großen blauen Augen anblickten. So wie Casándra es eben tat, als wüsste sie, dass Ojo über sie nachdachte. Die Katze stand auf, streckte sich und machte einen Satz auf den Rücken der Ziege, die erschrocken meckerte. Casándra sprang zu Boden. Sie strich einmal um Ojos Beine und verschwand dann im Wald, den sie eben hinter sich gelassen hatten.

Er seufzte. »Sollen wir auf sie warten?« Ojo wollte endlich seine geschwollenen Beine hochlegen; er war nicht mehr der Jüngste.

»Sie findet uns schon«, nuschelte Chesoh.

Zum Glück. Ojo ging erleichtert weiter. »Wir machen es wie beim letzten Mal, ja?«

Chesoh nickte.

»Wir gehen getrennt rein, damit niemand auf die Idee kommt, wir könnten uns kennen.«

»Ich weiß, Ojo.«

Ojo sah ihn eindringlich an, doch Chesoh achtete gar nicht darauf. »Wir müssen unbedingt vermeiden, dass jemand auf die Idee kommt, wir könnten von den Rebellen sein. Ansonsten könnten die Folgen fatal sein!«

Chesoh stöhnte. »Ja, Ojo.«

»Unsere Feinde sitzen in einflussreichen Positionen. Die Gefahr ist heute noch genauso real wie vor zwanzig Jahren. Wir sollten das auf keinen Fall vergessen.«

Chesoh zog die Mundwinkel nach unten. »Ich weiß, Ojo.«

»Sollten wir geschnappt und gefoltert werden …«

Chesoh blieb stehen. »Ojo, das ist wirklich nicht der Zeitpunkt für eine deiner Reden. Ich weiß Bescheid. Außerdem sind wir gleich am Tor.«

Ojo sah nach vorn. Chesoh hatte recht. Er verkniff sich den Rest seiner Ermahnungen und ließ sich zurückfallen.

Vor ihnen betrat eine Karawane die Stadt. Das Tor stand offen und als Chesoh es erreichte, trat ihm eine Wache entgegen. Sie unterhielten sich.

Nachdem Chesoh eingelassen worden war, trat die Wache an Ojo heran. »Was wollt Ihr in der Stadt?«, fragte sie gelangweilt.

»Meine Familie besuchen. Meine Tochter hat ihr drittes Kind bekommen, und ich wollte mir den kleinen Racker mal ansehen. Angeblich soll er mir wie aus dem Gesicht geschnitten sein. Da muss er doch ein besonders süßer Feuerkäfer sein, nicht wahr?« Ojo strahlte die Frau an.

Diese trat beiseite. »Sicher, viel Vergnügen.«

Diese Geschichte verwendete er nicht zum ersten Mal, und bisher funktionierte sie ganz wunderbar. Sollte ihnen jemals jemand diesbezüglich auf die Schliche kommen …

Seine Familie kam ihm in den Sinn, die er in ihrem Versteck zurückgelassen hatte. Ojos Herz wurde schwer, wenn er daran dachte, wie weit fort sie waren, und wie lange es dauern würde, zu ihnen zurückzukehren. Selbst wenn sie, wie geplant, nur zwei Tage blieben.

 

Die Taverne kam in Sicht. Ein schäbiges Haus in einer nicht weniger schäbigen Gegend, eine krumme Tanne bedeckte das Gebäude mit ihren Zweigen. Die Lange Tanne hatten sie schon bei ihrem letzten Besuch als Unterkunft gewählt, weil sie günstig war, niemand darin unbequeme Fragen stellte und der Wirt ein alter Bekannter war. Ojo schlenderte hinein, um ein Zimmer zu mieten, während Chesoh sich um die Ziege kümmerte.

Begleitet vom durchdringenden Quietschen der Tür betrat er den Schankraum. Um diese Zeit waren kaum Gäste hier. Nur ein paar zerlumpte Gestalten saßen in einer Ecke und beugten sich stumm über ihre Krüge mit Waldbier. Ojo ging direkt zum Tresen, hinter dem der Wirt stand und mit einem Tuch die Krüge polierte. Taak Ahran und seine Taverne waren hier im Viertel ein Urgestein und Ojo kannte den Erdmann schon seit der Zeit der Rebellenbewegung in Glumerula.

Es dauerte einen Moment, bis Ojo sich auf den hohen Stuhl gesetzt hatte. Die Einrichtung der Langen Tanne war zugegebenermaßen nicht gerade für Zwerge gemacht. Hinter ihm kicherte jemand. Ojo ignorierte es.

»Na, schon wieder da. Ist das letzte Mal nicht erst ein Jahr her?«, fragte Taak.

»Nicht ganz«, erwiderte Ojo und rückte näher an den Tresen. »Wir mussten dieses Mal eher los. Uns gehen die …«, Ojo sollte sich lieber schnell eine plausible Ausrede einfallen lassen, »Hühner aus.«

»Katzen, na?« Taak stellte den Krug zur Seite und nahm einen anderen.

Ojo nickte schnell.

»Was will er denn mit den Viechern?« Der Wirt nickte in die Richtung der Eingangstür. Chesoh war gerade hereingekommen, Casándra auf der Schulter. Die anderen Gäste starrten ihn an. Wie immer erregte er Aufsehen mit den Stümpfen, die von seinen Flügeln noch übrig waren, auch wenn unter dem ausgefransten Kurzmantel nicht viel davon zu sehen war.

Ojo winkte ab. »Er mag sie eben.«

»Sollte ihm nicht ein, na, knackiges Hühnchen lieber sein?« In Taaks Augen blitzte der Schalk und er klopfte Ojo so heftig auf den Oberarm, dass er beinahe mitsamt dem Hocker umfiel.

»Wollt ihr wieder ein Zimmer?«

Ojo nickte. »Wie immer. Ist billiger.«

Taak ließ die Krüge stehen und holte einen Schlüssel. »Das Erste rechts. Heute Abend gibt es Suppe. Hühnersuppe, na.«

 

Noch bevor die Sonne ihre ersten Strahlen durch die Falten der dicken Wolltücher vor dem Fenster sandte, rüttelte Chesoh an Ojos Schulter. »Wir müssen los, sonst bekommen wir keinen guten Platz mehr.«

Leider hatte sein Reisegefährte recht. Ojo hievte sich aus dem Bett und ließ erst einmal seine Gelenke knacken. Das würde ein langer Tag werden.

Ihr erster Weg führte sie auf den Vormittagsmarkt, wo sie einen leidlich guten Platz ergatterten. Sie boten Tinkturen und Gewürze aus seltenen Kräutern an, die nur im Herzen des Waldes wuchsen, ebenso wie kunstvolle Figuren, die durch das Zusammenwirken von Feuer und Wasser hergestellt wurden, und vieles mehr. Die Verkäufe gingen schleppend, aber es war besser als nichts.

Zur Sonnenstunde bauten sie ihren Stand ab und folgten all den anderen Händlern ins Regierungsviertel, wo der Nachmittagsmarkt stattfand. Dort verkauften sie beinahe sämtliche geschnitzten Figuren und den Holzschmuck. Ojo war froh all diese Dinge nicht mehr zurück ins Zentrum des Waldes schleppen zu müssen. Sein Münzbeutel klimperte äußerst wohltuend und auch Chesohs Mundwinkel zeigte einen ungewohnten Schwung nach oben. Kurz vor Ende des Markttages schwärmten sie beide aus, um Waren einzukaufen, die sie in ihrem Versteck nicht selbst herstellen konnten: Tinte, Papier, verschiedene Gewürze, Pflanzensamen, Salz und allerhand mehr. Als die Müßigstunde verging, waren ihre Taschen beinahe ebenso voll, wie am Morgen. Ojo klopfte sich zufrieden auf den Beutel, den er sich um die Schulter geschlungen hatte. »Gute Arbeit«, sagte er zu Chesoh. Der warf ihm nur einen Blick zu und murrte irgendetwas zur Antwort. Auf seinem Rücken trug er einen ausgebeulten Rucksack zwischen den Stümpfen. Wie immer wurde er angestarrt. Sein Aussehen, sein Körperbau, die Farbe seines Haars schrie einfach nach Himmelsmensch, und jedem fiel das Fehlen seiner Schwingen sofort ins Auge. Ojo verkniff sich ein Seufzen. An ihrem letzten Ziel für den heutigen Tag würde er nicht mehr so sehr auffallen, allerdings war Ojo sich nicht sicher, ob der junge Himmelsmann sich dann tatsächlich wohler fühlen würde.

Ihr Ziel lag genau zwischen dem Regierungsviertel und dem Schatten, also ohnehin auf dem Weg zurück zur Taverne.

»Denkst du, Sansarof hat unsere Nachricht erhalten?«, fragte Ojo.

Chesoh nickte abgehakt. »Sicher. Ich habe ihm gestern schon einen Boten geschickt. Warum sollte er die Nachricht nicht erhalten haben?«

»Ach, ich bin nur nervös wegen dem Treffen.« Ojo rutschte den Beutel in eine bequemere Position. Viele Gesichter, die er bereits auf den beiden Märkten bemerkt hatte, liefen in dieselbe Richtung wie er und Chesoh. Das überraschte ihn nicht, denn ihr Treffpunkt war weit über die Grenzen der Hauptstadt bekannt und jeder der Glumerula besuchte, wollte auch dort einen Blick hineinwerfen. Einen magischen Moment durch den Sternenhimmel schlendern und dabei all die Lasten des Alltags vergessen … so hieß es zumindest.

»Keine Sorge«, sprach Chesoh leise weiter, »ich bin nicht der erste Verstoßene, der einen Angehörigen in Lichtburg um Gold anbettelt. Selbst, wenn die Nachricht abgefangen worden ist, wird niemand etwas Verdächtiges daran finden.«

Ojo nickte und ließ den Blick die Gasse entlangschweifen, nur um dann in den Himmel hinaufzusehen. Gerade riss die Wolkendecke auf und ließ vereinzelte Sonnenstrahlen durch. Zu ihrem Glück zogen die Soldaten Lichtburgs nicht bereits Kreise über ihnen.

»Hast du eine Ahnung, was für eine Ware wir von Sansarof erhalten sollen?« Chesoh folgte dem Strom aus Leibern und bog in eine breite Straße ab.

Ojo beschleunigte seine Schritte, um ihn nicht in der Menge zu verlieren. »Das hat Suleth nicht verraten. Er meinte nur, wir sollen gut darauf achten, da es für die Zukunft der Rebellen von entscheidender Bedeutung wäre.«

Chesoh lachte trocken. »Nur kein Druck …«

Sie folgten der Menge bis sich vor ihnen, am Ende der Straße, eine nachtschwarze Kuppel erhob. Endlich, der Tempel des Temperantios. Ojo streckte sich, um mehr erkennen zu können. Massive Marmorsäulen säumten eine breite Treppe, die auf einen Bogengang hinführte. Dort hinein drängten alle, ebenso wie Chesoh und er. Sie würden wohl anstehen müssen.

Nur noch schrittweise kamen sie vorwärts. Inzwischen hockten Dutzende von Bettlern am Straßenrand und hielten ihre Hände auf. Die meisten davon gehörten dem Himmelsvolk an. Verstoßene und Magielose, die in Lichtburg nicht geduldet wurden und dank der Ablehnung durch ihr eigenes Volk jegliche Perspektive verloren hatten. Nicht jeder magielose Himmelsmensch endete hier, die meisten fanden irgendwo in Glumerula, oder in einer der abgelegeneren Städte des geflügelten Volkes, eine Anstellung und lebten einfach ihr Leben ohne die Stadt der Türme. Manche aber schien dieser Verlust härter zu treffen, ihnen jegliche Kraft zu rauben, als gäbe es nur noch den Blick nach oben. Die meisten Besucher des Tempels gingen an den im Staub kauernden Gestalten vorbei. Ojo war schockiert davon, wie schmutzig, verklebt und auch übelriechend das Gefieder der Bettelnden war. Nichts vom Glanz großer Schwingen war ihnen geblieben, stattdessen wirkten sie wie gerupfte Hühner. Manche der traurigen Gestalten waren, wie auch Chesoh, gestutzt worden. Der junge Himmelsmann stapfte mit dem Blick zu Boden gerichtet an ihnen vorbei. Ojo kramte ein paar Bronzene aus seinem Beutel und verteilte sie gerecht an die Menschen dort am Boden.

Der Tempel des Gottes der Gnade war seit jeher eine Anlaufstelle für die Aussätzigen, Armen und Glücklosen des Himmelsvolkes. Er war mithilfe von Spendengeldern errichtet worden, die vornehmlich aus Lichtburg stammten. Entsprechend opulent ragte das Bauwerk in die Höhe. Ojo rümpfte die Nase und warf einen Blick in den Himmel, wo die Stadt der Türme im letzten Licht des Tages glänzte. Vermutlich wollten die Lichtburger mit diesem Prunkbau ihr schlechtes Gewissen beruhigen, das sie gegenüber ihren armen Verwandten hatten.

Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichten Ojo und Chesoh den Eingang. Dunkelheit umfing sie, als sie zwischen den Säulen hindurchtraten. Im Inneren begrüßte sie flackerndes Fackellicht. Ojo fand sich am oberen Ende einer Treppe wieder, die in ein Amphitheater hinunterführte. Nebel waberte dort unten in einem Becken, in dessen Zentrum eine Statue stand. Zahlreiche Menschen hockten auf den Steinstufen. Ihre geflüsterten Gebete erfüllten den Raum. Überall glänzte schwarzer Marmor an den Wänden, der Decke und auch am Boden; die Silbereinschlüsse in dem Material glitzerten wie abertausend Sterne. Es wirkte tatsächlich, als würde man in einen klaren Sternenhimmel hineintreten. Ojo blieb für einen Augenblick die Luft weg. Zu welch atemberaubender Kunstfertigkeit das geflügelte Volk doch fähig war. Auch deswegen zog es flügellose Besucher aus ganz Ahrcárra hier her. Jeder wollte einmal den Glanz Lichtburgs bewundern. Und dass, obwohl dieser Tempel nur ein fader Abklatsch der Schönheit der Stadt der Türme sein konnte, zumindest soweit Ojo wusste.

Durch das runde Oberlicht im Zentrum der Kuppel fiel ein einzelner Lichtstrahl auf die Silberstatue unten im Nebelbecken. Temperantios, der eine brennende Fackel über den Kopf hielt, mit gespreizten Schwingen. Ein Raunen ging durch die Menge, als er zu glänzen begann, und von allen Seiten wurde der Name des Gottes der Gnade geflüstert. Geworfene Münzen funkelten kurz und verschwanden im Nebel des Beckens.

Die Kuppel wurde von vierzehn Säulen gestützt, die oben am Rand entlang um das Zentrum herum verliefen. Jede einzelne war mit grauem Achat und Mondstein vertäfelt. Sie wirkten wie verquirlte Wolken, durchdrungen vom Licht der Sterne. Chesoh rempelte Ojo an, und holte ihn so aus seinen Gedanken. »Das ist er, oder?« Er nickte zu einer der Säulen, wo ein älterer Himmelsmann in einem steingrauen Talar nervös um sich blickte. Niemand sonst achtete auf ihn.

»Ja, das ist Sansarof«, bestätigte Ojo. Auch er warf einen nervösen Blick über die Schulter.

»Jetzt hör schon auf, dich dauernd umzusehen. Sonst fallen wir tatsächlich noch auf«, zischte Chesoh ihn an und marschierte ohne Umschweife auf den Geflügelten an der Säule zu. Ojo strich sich über den geflochtenen Bart und folgte ihm.

Sansarofs Augen wurden weit, als er Ojo bemerkte. Sofort zog er sich in die Nische zwischen Wand und Säule zurück, tief in den Schatten, den nicht einmal mehr das Fackellicht durchdrang. Ojo atmete tief ein, aber noch bevor er wieder ausatmen konnte, schob Chesoh ihn zu Sansarof in die Dunkelheit.

»Ojo, Chesoh«, flüsterte der Himmelsmann. »Es tut gut euch gesund und munter wiederzusehen.« Er neigte den Kopf.

Ojo erwiderte die Geste, ebenso wie Chesoh. Danach hielt er ihm die erhobene Faust hin und Sansarof schlug mit seiner dagegen.

»Wie ist es dir im letzten Jahr ergangen?«, fragte Ojo. Dabei warf er sich schon wieder einen Blick über die Schulter und sah in Chesohs anklagendes Gesicht. Ojo versuchte seinen Herzschlag mit dem Gedanken zu beruhigen, dass sich so viele Menschen im Tempel aneinanderdrängten, dass es kaum auffallen konnte, wenn sie hier so eng beieinanderstanden.

»Mir wurde die Stellung als Turmwart einer äußerst wohlhabenden Familie in Lichtburg zugetragen … Ich habe sie natürlich ausgeschlagen, sonst hätte ich Suleths‘ Spezialauftrag nicht mehr nachkommen können.« Er rümpfte die Nase.

Ojo betrachtete das Wappen Lichtburgs, einen einzelnen Turm vor einer goldenen Strahlensonne, auf dem Talar des Himmelsmannes. Sansarof arbeitete als Schlossmeister für die Stadtwache in Lichtburg. So kam er nicht nur an Informationen, sondern auch an Schlüssel. Eine äußerst gute Stellung für einen vermeintlich Magielosen, der nur dank eines von Suleth finanzierten Visums überhaupt in der Stadt der Türme leben und arbeiten durfte. Zu seinem Glück war Sansarof ein äußerst geschickter Schlosser, was vor allem an der Tatsache lag, dass er ein Kind Glumerulas war und der Feuermagie mächtig. Als junger Mann hatte er strahlend rotblondes Haar und Gefieder gehabt. Nun war alles an ihm aschegrau.

»Hast du dabei, was du uns übergeben sollst?« Chesoh trat an Ojos Seite.

Sansarof erstarrte. Er nahm sich einen Moment, um die Menge zu mustern, schließlich nickte er. Aus der Innentasche seines Talars zog er ein in Stoff gewickeltes Paket hervor. »Seid vorsichtig, sie brechen leicht und sind dann wertlos.«

Chesoh nahm das Paket mit beiden Händen entgegen und schlug das Tuch zur Seite.

Sansarof legte sein Flügelgelenk auf Chesohs Hand. Der zuckte vor der Berührung zurück.

»Nicht …«, sagte er durchdringend. »Wenn jemand erkennt, was ihr da habt, sind wir geliefert.«

Ojo schielte auf den dunklen Stoff, versuchte anhand der Form zu erkennen, was sich im Inneren verbergen könnte. Er nickte. Chesoh nahm den Rucksack ab und verstaute das Paket.

Ojo übergab Sansarof noch einen versiegelten Brief von Suleth und sie wechselten ein paar wenige Worte. Danach machte er sich mit Chesoh und der heißen Ware auf den Weg zur Langen Tanne.

 

Er war vermutlich noch nie so schnell durch die Straßen Glumerulas gelaufen, ohne zu rennen. Keuchend versuchte er mit Chesoh Schritt zu halten.

Sie waren kaum auf ihrem Zimmer, da schlüpfte Chesoh aus den Riemen des Rucksacks, öffnete ihn und kramte das Paket hervor.

Ojo sah ihn fragend an.

»Willst du nicht wissen, was da drin ist?«, fragte Chesoh und legte es auf die Strohmatratze. Casándra sprang vom Fensterbrett aufs Bett und schnupperte an dem Stoff, dabei schnurrte sie laut.

»Ich weiß nicht, ob Suleth …«

»Komm schon, Ojo. Suleth, du und Kánth seid alle drei unsere Anführer. Du hast ein Recht darauf zu erfahren, was da drin ist.« Chesoh verschränkte die Arme.

Ojo zwirbelte seinen Bart mit den Fingern. Neugierig wäre er schon und hier in dem Zimmer konnte sie niemand dabei beobachten. Zudem wäre es sicherlich gut, zu wissen, was sie mit sich durchs halbe Land schleppen würden. Er seufzte. »Also gut, mach auf.«

Chesoh ballte kurz die Fäuste und öffnete dann mit spitzen Fingern das Paket. Zwei gelb glänzende Kristalle, spitz zugeschliffen, kamen zum Vorschein. Chesoh zog seine Hand zurück, als hätte er sich daran verbrannt.

Ojo trat näher. »Was ist das?«

»Was will Suleth damit?«, zischte Chesoh.

»Verrat mir erst einmal, was das ist, dann kann ich deine Frage vielleicht beantworten.«

»Erkennst du es nicht?« Chesoh deutete mit der ausgestreckten Hand auf die beiden Kristalle. Casándra legte den Kopf schief, als würde sich das Gespräch um sie drehen.

Ojo betrachtete die Steine genauer. Diese Form, spitz wie für einen Speer. Oder für einen Stab. War dieser Zacken in der Mitte der Kristalle vielleicht gar kein Zufall, sondern Absicht? Dadurch sahen sie aus wie Blitze. Ojo schnappte ebenfalls nach Luft. »Sind das Kristalle für … für Gewitterstäbe?«

Chesoh nickte. »Was will Suleth damit?«, wiederholte er. »Wir haben auf der Insel nicht mal eine Handvoll Wettermagier, Suleth selbst eingeschlossen … also, wofür diese Dinger?«

Ojo schüttelte den Kopf. »Vielleicht will er sich im Falle eines Angriffs verteidigen können?«, mutmaßte Ojo.

»Und gegen wen?« Chesoh wurde immer lauter. »Gegen Lichtburg etwa? Mit zwei Gewitterstäben und ein paar mittelmäßigen Wettermagiern?«

Ojo schlug das Tuch wieder über die Kristalle. »Ich weiß es nicht, Chesoh. Fragen wir Suleth, sobald wir zurück sind.«

Chesoh schüttelte den Kopf. »Nein. Wir lassen sie verschwinden.«

»Was?«

»Ich werde keine Kriegswaffen auf unsere Insel bringen. Willst du etwa, dass deine kleine Lillyn irgendwann gegen Lichtburg in den Kampf zieht?«

Ojo sah Chesoh entgeistert an. »Wie kommst du denn auf sowas? Red keinen Unsinn, Junge und pack die Steine in eine der Taschen.«

»Nein!« Chesoh verschränkte wieder die Arme. Trotzig sah er auf Ojo herunter.

Ojo rieb sich die Nasenwurzel. »Jetzt lass uns nicht streiten. Sicherlich hat Suleth einen guten Grund dafür, diese Kristalle von Sansarof stehlen zu lassen. Wir werden ihn fragen und dann diskutieren, was wir damit machen. Wir haben uns doch schon immer einigen könne, auch in scheinbar unlösbaren Konflikten. Das ist unsere Art, Diskussionen statt Gewalt. Worte statt …«

»Statt Waffen?«

Ojo blieb die Standpauke, die er eben noch halten wollte, in der Kehle stecken. Aber Chesoh gab ihm ohnehin keine Möglichkeit, etwas zu erwidern. »Wenn die Kristalle mitkommen, werde ich es nicht tun!« Mit diesen Worten stürmte er aus dem Zimmer. Casándra maunzte ihm hinterher und folgte ihm schließlich durch die offenstehende Tür. Ojo sah ihm nur kopfschüttelnd nach.

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